Dienstag, 29. September 2009

Ikone des sowjetischen Revolutionsfilms

Ein Beitrag von Dr. Andreas Zellhuber, Augsburg

"Panzerkreuzer Potemkin" – UdSSR 1925
Russ.: „Bronenossez Potjomkin“ – SW, stumm mit russ. Zwischentiteln, 63 min., restaurierte Fassung (Deutsche Kinemathek): 70 min. – Regie und Schnitt: Sergei Eisenstein – Drehbuch: Nina Agadschanowa, Sergei Eisenstein, Sergei Tretjakov und Nikolai Aseiev, nach einer Vorlage von Alexander J. Newski – Film-Musik: Edmund Meisel / Pet Shop Boys u.a. – Kamera: Eduard Tisse und Wladimir Popow – Darsteller: Aleksandr Antonow (Wakulintschuk) u.a.

Der Film „Panzerkreuzer Potemkin“ des russischen Regisseurs Sergei Eisenstein war eine Auftragsarbeit. Am 17. März 1925 beschloss die Jubiläumskommission der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, das Hauptschauspiel zum feierlichen Gedenken an die revolutionären Geschehnisse des Jahres 1905 solle die Aufführung eines Films sein, flankiert von Reden und mit Orchesterbegleitung. Anfang April legte der Parteihistoriker Alexander J. Newski ein Typoskript der wichtigsten Ereignisse von 1905 vor. Basierend auf Augenzeugenberichten schilderte Newski unter anderem den Aufstand der Matrosen auf dem Panzerkreuzer „Fürst Potemkin von Taurien“ am 14. und 15. Juni 1905 im Hafen von Odessa, berichtete über die Empörung der Einwohner Odessas, die zum Hafen strömten, um sich mit den Matrosen zu solidarisieren, beschrieb schließlich die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes durch die zaristische Staatsmacht auf der Treppe zwischen Stadtzentrum und Hafen (Bild 1, Bild 2). Nachdem Nina Agadashnowa-Schutko, Partisanin des Bürgerkrieges und verdiente Parteifunktionärin, das Typoskript zu einem Drehbuch umgearbeitet hatte, begannen noch im Juni die Vorbereitungen der Dreharbeiten. Diese wurden im August aufgenommen und im November 1925 beendet.



Als Regisseur konnte der erst 27-jährige Filmemacher Sergei Michailowitsch Eisenstein gewonnen werden, der durch den Film „Streik“ (Statschka, 1925), ebenfalls basierend auf den Ereignissen von 1905, vor allem aber durch sein filmtheoretisches Konzept der „Attraktionsmontage“ die Aufmerksamkeit der Jubiläumskommission erweckt hatte. Der Zuschauer sollte demnach durch Aggressivität, Kontrast und emotionale Stimulation aus seiner von bürgerlichem Ästhetizismus geprägten Kunstrezeption befreit werden. Ziel war die Erziehung des Zuschauers zum „neuen Sowjetmenschen“, der die Kunst nicht nur passiv auf sich wirken lassen, sondern als Handlungsanreiz verstehen sollte.

Damit skizzierte Eisenstein zugleich den filmtheoretischen Hintergrund eines Genres, das es in dieser Form nur in der Sowjetunion gab, nämlich das Genre des Revolutionsfilms, das die filmische Glorifizierung der russischen Oktoberrevolution und ihrer Vorläufer als identitätsstiftende Gründungsmythen der UdSSR thematisierte. Prominente, auch im Westen geläufige Werke des Genres sind W.I. Pudowkins Gorki-Verfilmung „Die Mutter“ (Mat, UdSSR 1926)und dessen Epos „Sturm über Asien“ (Potomok Tschingis-Chana, UdSSR 1928). Allerdings war dem Genre kein all zu langes Dasein beschieden. Die Filmschaffenden der Sowjetunion konzentrierten sich seit Mitte der dreißiger Jahre auf die Person Stalins. Filme, die zur aktiven Teilnahme am politischen Prozess, gar zu Unmutsäußerungen gegenüber der Staatsmacht anregten, waren aus leicht nachvollziehbaren Gründen zunehmend unerwünscht.



Die Uraufführung des „Panzerkreuzers Potemkin“, der als Ikone des Genres gelten kann, fand am 24. Dezember 1925 im Bolschoi-Theater in Moskau vor den Teilnehmern des XIV. Parteikongresses der KPdSU statt und war ein durchschlagender Erfolg. Auch die Öffentlichkeit nahm den Film begeistert auf. In nur vier Wochen strömten 300.000 Zuschauer in die Vorstellungen, schnell wurde der Streifen zu einem der kommerziell erfolgreichsten Filme der noch jungen sowjetischen Kinogeschichte, der noch bis Anfang der dreißiger Jahre öffentlich vorgeführt wurde – wenn auch in immer wieder von Neuem zensierten Fassungen. Auch im Ausland war dem Streifen großer Erfolg beschieden. 1926 gelangte der Film in den meisten europäischen Ländern und in den USA zur Aufführung und wurde auch dort vom Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen.



Es folgte eine einmalige Rezeptionsgeschichte, die auf der Brüsseler Weltausstellung von 1958 in die Kür zum „Besten Film aller Zeiten“ mündete. Auch wenn der Wert eines solchen Titels fragwürdig erscheint, bezeugt er doch die anhaltende filmtheoretische, filmtechnische und ikonographische Wirkmächtigkeit des Streifens . Diese schlug sich nicht zuletzt in der Rezeption und in zahlreichen Filmzitaten durch Filmschaffende des gesamten 20. Jahrhunderts nieder. Insbesondere die „Treppenszene“ wurde emblematisch für die gewaltsame Unterdrückung einer Bevölkerung durch die Staatsmacht.



Sie wurde in unzähligen Filmen zitiert oder imitiert. Die bekanntesten Beispiele finden sich in Brian De Palmas Version von „The Untouchables – Die Unbestechlichen“ (USA 1987), in Woody AllensBananas“ (USA 1971) und in Terry GilliamsBrazil“ (GB 1985). Ästhetisch aufgegriffen, in ihrer Aussage aber in ihr Gegenteil verkehrt, wurde die Szene in Leni Riefenstahls Parteitagsfilm „Triumph des Willens“ von 1934, wo die diktatorische Macht der NS-Bewegung im Gleichschritt verherrlicht wurde.









Was den Film weit über den Rang eines zeitgebundenen Propaganda-Machwerkes hinaushebt, ist seine dramaturgische und filmtechnische Komposition. Seine Gliederung in fünf Akten entspricht dem der klassischen Tragödie mit Exposition, Entwicklung, Katastrophe und Auflösung. Schnelle Schnitte und Perspektivwechsel erzeugten trotz der – aus technischen Gründen – noch statischen Kamera eine ungeheure Dynamik der Erzählung. So spiegeln sich vor allem im ersten Kapitel in den wechselnden Perspektiven der Kamera die sozialen und militärischen Hierarchien, die in den späteren Kapiteln aufgebrochen werden.
Dabei entwickelt sich durch den Kontrast zwischen Nahaufnahmen und Totalen, zwischen konkretem Naturalismus und emblematischem Symbolismus, zwischen Weichzeichnung und scharfen Einstellungen, zwischen Pathos und Sentiment ein einmaliger Rhythmus von Epik und Dramatik, die dem Theorem der Attraktionsmontage zur praktischen Umsetzung verhilft. Ein markantes Beispiel für den Bildrhythmus ist im letzten Akt des Films die Begegnung der Potemkin mit der kaiserlichen Flotte. In einer für heutige Sehgewohnheiten ungewöhnlich langen Folge von Schnitten und Perspektivwechseln wird – durch die sich beschleunigende und schließlich wieder abklingende Filmmusik verstärkt – eine immer größer werdende Spannung und Dynamik erzeugt: aus dem verschlafen in der Morgendämmerung liegenden Schiff wird ein dahin rauschender kampfbereiter Kreuzer; erst kurz vor der Katastrophe entspannt sich die Situation, als sich die Mannschaften der anderen Schiffe mit den revolutionären Matrosen solidarisieren, im Angesicht der – auch symbolisch – aufgegangenen Sonne. Der Film endet hier, aber die Revolution nimmt – historisch nicht korrekt – ihren Lauf.




Dieser dynamische und kontrastreiche Rhythmus der Sequenzen stellte die begleitende Filmmusik vor große Herausforderungen. Anfänglich wurde der Streifen von der Darbietung klassischer Werke etwa von Beethoven oder Tschaikowski begleitet. Eisenstein selbst vertrat die Auffassung, jede Generation müsse die entsprechende Filmmusik für sich neu erfinden. Und in der Tat ist die jüngste Fassung gerade einmal fünf Jahre alt: in Zusammenarbeit mit dem Dresdner Sinfonieorchester haben die Pet-Shop-Boys 2004 ihre Version der Filmmusik des „Panzerkreuzers Potemkin“ vertont. Die vielleicht bekannteste Version bleibt aber die 1926 von Edmund Meisel komponierte Begleitmusik, die mit einzelnen Takten aus der Internationalen und der Marseilleise der sozialrevolutionären Botschaft des Films Rechnung trug. Meisel war einer der innovativsten Komponisten von Filmmusik in den 1920er Jahren und hatte beispielsweise auch Ruttmanns „Berlin – die Sinfonie der Großstadt“ (1927) vertont.


Die politische Botschaft wird bereits vor der ersten Einstellung des Filmes ersichtlich. Denn dem ersten Akt von „Panzerkreuzer Potemkin“ ist ein Zitat Leo Trotzkis vorangestellt, das im Sinne des historischen Materialismus auf die Entindividualisierung des geschichtlichen Prozesses verweist und die Masse zum Akteur weltgeschichtlicher Handlungen erhebt: „Der Geist des Aufruhrs schwebte über dem russischen Lande. Irgendein gewaltiger und geheimnisvoller Prozess vollzog sich in zahlreichen Herzen: es lösten sich die Bande der Furcht, die Individualität, die eben erst sich selbst erkannt hatte, ging in der Masse und die Masse in dem großen Elan auf.“(Russland in der Revolution, 1909)
Folgerichtig sind die Darsteller des Films weniger heroische Einzelakteure sondern typologische Schablonen, die den Matrosen, den Soldaten, den Arbeiter, die Mutter, den Bettler, den Offizier, den Aristokraten, den Großbürger oder den Antisemiten verkörpern. Abgesehen von dem Anführer und Märtyrer der Meuterei, Wakulintschuk, sind deshalb alle anderen Figuren namenlos. Ihr Handeln geht im historischen Prozess auf. Die Erhebung auf dem „Panzerkreuzer Potemkin“ weitet sich in konzentrischen Kreisen aus, wird so zur Revolution gegen das zaristische Regime und verweist auf die Gesetzmäßigkeiten der Geschichte: nach den Matrosen erfasst sie die Hafenarbeiter, die Bürger Odessas und schließlich die gesamte Schwarzmeer-Flotte, mithin wiederum in typologischer Deutung alle proletarischen Schichten des Zarenreiches.

Die Geschehnisse des Jahres 1905 führten zu keinem revolutionären Umsturz des zaristischen Ancien Régime. Die „Potemkin“ flüchtete sich – wenig heroisch – in neutrale Gewässer, die landesweiten Erhebungen und Streiks wurden gewaltsam niedergeschlagen oder brachen von selbst zusammen. Der propagandistische Bezug des Films auf eine gescheiterte Revolution erscheint auf den ersten Blick paradox. Doch war gerade auch das Scheitern dieses revolutionären Vorläufers von 1917 im Denken der leninistischen Revolutionstheorie durchaus folgerichtig. Wiederholt – und vermehrt nach den Geschehnissen von 1905 – hatte der im Exil lebende marxistische Theoretiker und spätere Begründer der Sowjetunion, darauf verwiesen, dass die revolutionäre Masse nur unter der Führung geschulter Parteikader Erfolg haben könne. Die wenig organisierte Erhebung der „Potemkin“, der frühe, gewaltsame Tod Wakulintschuks, des einzigen individuell gezeichneten Protagonisten, die eher impulsive denn gesteuerte Solidarisierung durch die Bevölkerung Odessas, lassen jenen Typus des Berufsrevolutionärs vermissen, den Lenin, am eindringlichsten in seiner Programmschrift „Was tun?“ (1902, Text), für einen erfolgreichen Verlauf der politischen und gesellschaftlichen Revolutionierung seiner Heimat postuliert hatte. Der „Elan der Masse“ war Voraussetzung, aber nicht Garant einer erfolgreichen Revolution. Sie bedurfte der Lenkung durch die Partei und ihre maßgeblichen Exponenten.

Das Eingangs-Zitat von Trotzki konnte freilich in der Stalin-Ära nicht lange bestehen. Die Verdrängung Trotzkis aus der Parteispitze ab 1926/27 machte eine damnatio memoriae notwendig. Die Sentenz Trotzkis wurde 1935 durch ein Lenin-Zitat ersetzt, das seinerseits in den folgenden Jahrzehnten mehrfach nach jeweils herrschender Les- und Denkart abgeändert oder ersetzt wurde. Damit wurde der Film über einen Ursprungsmythos der UdSSR letztlich selbst zu einem Symbol der wechselvollen Geschichte der Sowjetunion.





Literaturhinweise

  • Mike O‘MAHONY, Sergei Eisenstein, London 2008.
  • Stefan FISCH, Der Weg des Films „Panzerkreuzer Potemkin“ (1925) in das Kino der zwanziger Jahre, Speyer 1997.
  • Sergej M. EISENSTEIN, Über mich und meine Filme, Berlin 1975





Hinweis zum Urheberrecht/Bildnachweis: Der besprochene Film ist gemeinfrei (Public Domain) und kann auf allen gängigen Video-Portalen eingesehen werden, zum Beispiel zum Download auf archive.org. Die Standbilder der anderen Filme wurden für diesen wissenschaftlichen Text im Rahmen des Zitatrechts (§51, UrhG) hergestellt und dürfen ohne Erlaubnis nicht weitergegeben werden. "Triumph des Willens" von Leni Riefenstahl (1935) ist ebenfalls gemeinfrei. Die Bilder sind folgenden Filmen entnommen:



Die gegen Ende des Dritten Aktes aufgezogene rote Fahne war in den ersten Fassungen von Hand koloriert worden und fügte sich so im SW-Film in das Kontrast-Schema von Eisensteins Attraktionsmontage.

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