Donnerstag, 3. Mai 2012

"That agony is our triumph"

Ein Beitrag von Kristian Buchna M.A., Augsburg


Sacco e Vanzetti – I./F. 1971
Regie: Giuliano Montaldo - Musik: Ennio Morricone - Texte und Gesang: Joan Baez - Darsteller:  Gian Maria Volontè, Riccardo Cucciolla, Geoffrey Keen, Milo O’Shea, Cyril Cusack.


Americans who believe in isolation and non-interference in European affairs would be surprised if they could visit Paris at this time. They would find that America was as much isolated as a queen bee in full swarm with every worker and drone humming around her.
New York Times, 7. August 1927

Für Anhänger des in Amerika vielfach beschworenen „Nicht-Einmischungsprinzips“ müssen es wahrhaft schwere Zeiten gewesen sein, drohte dieses doch gleich von zwei Seiten durchlöchert zu werden: Einerseits erwies sich der Kriegseintritt der USA im Jahr 1917 als ein point of no return; der geradezu sprunghafte Aufstieg zur politischen und wirtschaftlichen Weltmacht war mit überkommenen isolationistischen Bestrebungen unvereinbar. Begünstigt und forciert durch eine unaufhaltsam voranschreitende Massenmedialisierung gerieten andererseits aber auch innere Entwicklungen der neuen Großmacht zunehmend in den Fokus einer interessierten, kritischen Weltöffentlichkeit. Im August 1927 erreichte das globale Interesse an einer auf den ersten Blick innenpolitischen Angelegenheit der USA, nämlich der bevorstehenden Hinrichtung zweier wegen Raubmordes zum Tode verurteilter italienischer Einwanderer, ein bis dato ungekanntes Ausmaß – keineswegs nur in Paris, wo zum Schutz der amerikanischen Botschaft sogar Panzer zum Einsatz kamen. Das Spektrum der „Anteilnahme“ war breit: Petitionen, Gnadengesuche, Massendemonstrationen (vgl. die  externe Gallerie) mit z. T. über 100.000 Teilnehmern, Generalstreiks, Boykotte amerikanischer Waren oder Häfen, Verbrennungen von US-Flaggen, Hungerstreiks politischer Gefangener, tätliche Übergriffe auf amerikanische Einrichtungen, Bombenattentate oder -drohungen gegen US-Botschaften und Konsulate. Als geographisches Zentrum jenes Protestes lässt sich zwar unschwer Mittel- und Westeuropa ausmachen, doch von Skandinavien bis Südafrika, von Argentinien bis Japan, von Marokko bis Griechenland, von Kuba bis Rumänien gab es kaum ein Land, in dem sich nicht auf diese oder jene Weise Proteste regten. Die 1920er Jahre waren sicherlich nicht eben arm an Demonstrationen und Streiks – als vermutlich erster globaler, zeitgleich sich vollziehender Massenprotest dürfte die Bewegung gegen die Hinrichtung von Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti jedoch in Qualität und Quantität alles bisher Dagewesene in den Schatten gestellt haben.1

Protest in London, 1921, anonymer Fotograf, Quelle: Wikimedia (Public Domain)




Der Hintergrund

Ein Gespenst ging um in Amerika – das Gespenst des Kommunismus und Anarchismus. Angesichts der angespannten, zeitweise hysterischen Atmosphäre im Amerika nach dem Ersten Weltkrieg erscheint dieses abgewandelte Zitat aus dem „Kommunistischen Manifest" [Wortlaut auf Wikisource] (1848) durchaus berechtigt. Der Sieg der Bolschewiki in Russland, revolutionäre Erhebungen in Europa sowie eine landesweite Streikwelle waren der Nährboden für jenen „Red Scare“, der sich nach Kriegsende ausbreitete und durch eine Serie anarchistischer Bombenattentate weiter geschürt wurde. Allein mit dem in den USA vergleichsweise kleinen, untereinander kaum vernetzten, in sich zerstrittenen Lager von Kommunisten und Anarchisten wäre jene „rote Angst“ jedoch nicht zu erklären. Es war der traditionell überproportionale Anteil europäischer Einwanderer in diesen Kreisen, der das Gefühl der Bedrohung im eigenen Land wesentlich verstärkte und zu „Gegenmaßnahmen“ der Regierung führte: Auf Betreiben des US-Attorney General (Justizminister) Alexander Mitchell Palmer, der selbst einem Bombenattentat entging, kam es von 1919 bis 1921 zu landesweiten, nicht gerade verfassungskonform durchgeführten Razzien gegen linksradikale Organisationen, den sogenannten Palmer Raids. Etwa 10.000 mutmaßliche Staatsfeinde wurden (auch ohne Haftbefehl) festgenommen, z. T. gewaltsam verhört und hunderte der nicht-eingebürgerten Verdächtigen nach Europa bzw. Russland deportiert. Darüber hinaus sollte eine restriktive Quotenregelung für Einwanderer die vermeintliche Quelle jenes Gefahrenpotentials zum Versiegen bringen. Insbesondere die seit der Jahrhundertwende stetig anwachsende „New Immigration“ aus den zunehmend misstrauisch beäugten Ländern Ost- und Südeuropas wurde durch zwei Bundesgesetze massiv eingeschränkt. So durften 1921 lediglich noch 4.000 Italiener in die USA einwandern – im Jahr 1908 waren es noch 130.000 gewesen.

Zwei von ihnen waren damals Nicola Sacco aus der Region Apulien und Bartolomeo Vanzetti aus dem Piemont. Ihre anarchistischen Neigungen führten sie zwar erst 1917 in einem Zirkel gleichgesinnter Italiener zusammen, doch ihre Lebenswege wiesen bis dahin einige Parallelen auf: Beide verließen Italien bereits als Anhänger sozialistisch-anarchistischer „Ordnungsmodelle“. Mit Gelegenheitsarbeiten fing ihre Zeit im Land der scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten recht ernüchternd an; Vanzetti schlug sich zuletzt als Fischhändler mehr schlecht als recht durchs Leben, Sacco hingegen verdiente in einer Schuhfabrik so viel, dass er immerhin kleine Ersparnisse aufbauen und seinen Vater in Italien finanziell unterstützen konnte. Der befürchteten Einberufung in den Militärdienst entzogen sie sich 1917 durch eine kurzzeitige Flucht nach Mexiko – während des späteren Prozesses versuchte der Staatsanwalt von Massachusetts, Frederick Katzmann, immer wieder, ihnen aus dieser Episode einen Strick zu drehen. Sacco und Vanzetti schlossen sich in East Boston, einem Zentrum italienischer Anarchisten seit den 1890er Jahren, der anarchistischen „Gruppo Autonomo“ an, zu deren Zielen auch ein gewaltsamer Umsturz der Regierung zählte. 

Die genauen Umstände, die am Abend des 5. Mai 1920 zur Verhaftung von Sacco und Vanzetti – beide waren bewaffnet – führten, sind bis heute einigermaßen nebulös; sie wurden schließlich angeklagt und schuldig gesprochen, am 15. April 1920 in South Braintree (Mass. - Google Maps) einen zweifachen Raubmord begangen zu haben. Es dürfte wohl niemals mit letztgültiger Gewissheit zu klären sein, ob sie dieses Verbrechen wirklich begangen haben. Unzweifelhaft ist hingegen, dass die Voraussetzungen für einen vorurteilsfreien, fairen Prozess denkbar schlecht waren, da sich der Fall – von beiden Seiten – zur Politisierung und ideologischen Aufladung anbot. Zu idealtypisch entsprachen sie einerseits dem perhorreszierten Schreckbild des linksradikalen, kriminellen, atheistischen, nicht anpassungswilligen Einwanderers, des fremden Feindes im eigenen Land. Sacco und Vanzetti verliehen dem vielfach vagen „Red Scare“ ein konkretes, als bedrohlich wahrgenommenes Gesicht. Doch das war nur die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite der „Anklagebank“ stand der kapitalistische Yankee-Imperialismus, die brutale Dollarjustiz, die an zwei aufrechten und ehrlichen Kämpfern für die Befreiung der Arbeiterklasse in einem frame up, einem abgekarteten Schauprozess, ein Exempel statuieren wollte – Sacco und Vanzetti avancierten vom Zeitpunkt der Verhaftung an zu Märtyrern ihrer Bewegung, deren Mythisierung noch zu Lebzeiten begann. 

Es war allen Beteiligten klar, dass es im Fall Sacco und Vanzetti im Grunde um mehr ging als um einen gewöhnlichen Prozess gegen zwei mutmaßliche Raubmörder. Gleichsam symbolhaft standen sich im Gerichtssaal von Dedham vor den Augen der Weltöffentlichkeit zwei völlig entgegengesetzte Weltanschauungen gegenüber. Selbst inoffizielle Aussagen von Staatsanwalt Frederic G. Katzmann und Richter Webster Thayer untermauern die Vermutung, dass es sich hier auch um einen politischen Prozess handelte. Dieser allgemein vorherrschende Eindruck trieb seit dem Todesurteil vom Juli 1921 Hunderttausende von Menschen zu Protesten auf die Straße. Persönlichkeiten wie Heinrich und Thomas Mann, Paul Löbe, Ruth Hale, Heinrich Zille, Max Liebermann, Henri Barbusse, Max Reinhardt, John Dos Passos, Albert Einstein, George Bernard Shaw, Romain Rolland, Marie Curie, Anatole France – die fünf zuletzt genannten waren immerhin amtierende Nobelpreisträger – hegten wohl kaum Sympathien für anarchistische Ideologeme, dennoch reihten sie sich in die schier endlose Liste derjenigen ein, die entweder einen Freispruch von Sacco und Vanzetti forderten oder aber ein Gnadengesuch an den Gouverneur von Massachusetts, Alvan T. Fuller, unterstützten. Doch trotz eines zweimaligen Aufschubs des Hinrichtungstermins wurden am 23. August 1927 Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti im Staatsgefängnis von Charlestown auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Der Trauerzug durch Boston geriet fünf Tage später noch einmal zu einem stillen Massenprotest, über 200.000 Menschen säumten den Weg und erwiesen den beiden Toten die letzte Ehre.


Der Film

Ein  düsteres Kapitel der amerikanischen Rechtsgeschichte war damit beendet, doch der „Fall“ Sacco und Vanzetti ist bis zum heutigen Tag nicht in Vergessenheit geraten, was auch darauf zurückzuführen ist, dass sich namhafte Kunst- und Kulturschaffende vom Tag der Hinrichtung an ebenso kritisch wie produktiv mit jenem Justizskandal auseinandersetzten – erwähnt seien hier nur Erich Mühsam, Upton Sinclair, Maxwell Anderson, John Dos Passos, Kurt Tucholsky, Edna St. Vincent Millay oder George Grosz. Eine der populärsten Verarbeitungen jenes Stoffes ist dem italienischen Regisseur Giuliano Montaldo (*1930) zu verdanken, dessen Film „Sacco und Vanzetti“ auf den ersten Blick ein recht typisches Werk seiner Zeit ist, denn als italienisch-französische Koproduktion von 1971 reiht er sich ein in das damals beliebteste Genre in jenen Ländern, den Politthriller, der politisch brisante Themen von einem dezidiert politischen Standpunkt aus behandelt,  beispielhaft sei auf  die Werke von Costa Gavras oder den Film „I wie Ikarus“ (1979, Trailer auf Youtube) von Henri Verneuil verwiesen. Welchen Standpunkt der Regisseur Montaldo einnimmt, steht außer Frage – zu einseitig ist die Rollenverteilung, zu eindimensional die Zeichnung der „politischen“ Gegenspieler Saccos und Vanzettis; zu nennen wären hier allen voran der von Cyril Cusack gespielte Staatsanwalt Katzmann sowie Richter Thayer, dargestellt von Geoffrey Keen, heutigen Kinofans v.a. aus sechs James-Bond-Filmen als britischer Verteidigungsminister Sir Frederick Gray bekannt.


Dass der Film dennoch nicht als ein verzerrendes Tendenzstück abgetan werden kann, hängt wesentlich damit zusammen, dass er auch ein Kind früherer Kino-Zeiten ist, seine Wurzeln im italienischen Neorealismus sind evident (vgl. zu Roberto Rossellinis "Roma - citta aperta", 1945, den Beitrag in diesem Blog). Als Schüler von Gilberto (Gillo) Pontecorvo (vgl. dessen "Schlacht um Algier", 1966, den Beitrag in diesem Blog) fühlte sich Montaldo in hohem Maße einem dokumentarischen Anspruch verpflichtet. Um diesem auch gerecht zu werden, zog er bei seinen Recherchen nahezu alle verfügbaren Quellen heran, mit einem erstaunlichen Ergebnis: Nicht allein der grobe Handlungsrahmen entspricht (cum grano salis) dem realen Prozessverlauf; keine namentlich genannte Person ist erfunden; bei zahlreichen Aussagen, Verhören oder Plädoyers vor Gericht handelt es sich um wörtliche Zitate aus den Prozessakten; die Lügen Saccos und Vanzettis vor der Polizei, die widersprüchlichen, z. T. haltlosen Aussagen der Zeugen der Anklage oder die skurril anmutenden Geschichten von Entlastungszeugen lassen sich in ihrem Kern ebenso belegen wie die geschickte Instrumentalisierung der ballistischen Untersuchung zur mutmaßlichen Mordwaffe oder die zeitgenössisch als Sensation wahrgenommene Entlastung der beiden Angeklagten durch einen allerdings selbst wegen Raubmordes bereits zum Tode verurteilten Portugiesen. Am offensichtlichsten werden Montaldos dokumentarische Ambitionen dann, wenn Zeitungen mit ihren Titelschlagzeilen stakkatohaft hintereinander eingeblendet oder aber eindrucksvolle Wochenschau-Aufnahmen von den Massenprotesten in die Erzählung einflochten werden, einmal sogar als Film-im-Film-Montage.

Mit zunehmender Bedrückung wähnt sich der Zuschauer als Zeuge eines sich immer mehr zum Justizskandal ausweitenden Gerichtsverfahrens: Der Widerruf von Aussagen der Belastungszeugen wird vor Gericht nicht anerkannt, entlastendes Prozessmaterial verschwindet auf mysteriöse Art und Weise und ein als befangen und intransigent erscheinendes Gericht weist jegliche Forderung nach Wiederaufnahme des Verfahrens zurück. Die akribische Arbeit des Verteidigungskomitees erweist sich als ein Kampf gegen Windmühlen. 

In manchen Fällen war die Realität sogar noch „dramatischer“ als deren filmische Verarbeitung. So sehen wir die beiden Angeklagten im Gerichtssaal beispielsweise nicht in einem Käfig sitzen, wie es damals im Bundesstaat Massachusetts bei Verhandlungen wegen Kapitalverbrechen üblich war. Auch vom Hungerstreik, in den Sacco und Vanzetti am 18. Juli 1927 aus Protest gegen die bevorstehende Hinrichtung getreten sind, erfährt der Zuschauer nichts. Anders als im Film hat sich der eigenwillige Verteidiger Fred Moore keineswegs freiwillig vom Verfahren zurückgezogen, sondern wurde nach heftigen Kontroversen um die Methoden der inner- und außergerichtlichen Verteidigung gefeuert. Um die Erzählbarkeit zu gewährleisten, verzichtet Montaldo auch auf die Dolmetscher, auf die v. a. Sacco angewiesen war, der sich nach mehr als zehn Jahren in den Vereinigten Staaten allenfalls gebrochen auf Englisch verständigen konnte.

Es bedarf im Grunde nicht des Hinweises, dass auch dieser Film viele fiktionale Elemente enthält, vor allem dann, wenn es darum geht, menschliches Mit-Leid zu wecken. Hier und da hat Montaldo die Realität der Dramaturgie des Drehbuches „angepasst“, was beispielhaft an der Inszenierung der beiden Protagonisten gezeigt werden soll. Im kollektiven Gedächtnis tauchen Sacco und Vanzetti niemals getrennt voneinander auf, sie erscheinen als ein unzertrennliches Duo, das es in dieser Form jedoch nie gab. Sie waren keine Freunde, sondern lediglich Kampfgefährten, die seit dem Tage ihrer Verhaftung ein gemeinsames Schicksal verband, wobei sie selbst dieses nur selten in räumlicher Nähe, schon gar nicht in benachbarten Gefängniszellen verbrachten, wie es der Film suggeriert. Ihre gänzlich unterschiedlichen Charaktere werden hingegen betont, man könnte auch sagen überzeichnet. Auf der einen Seite der belesene, rhetorisch begabte, auch aus dem Gefängnis heraus agitierende, zum Märtyrertod bereite Vanzetti, gespielt von Gian Maria Volontè, dessen bekannteste Rollen zwar die der Bösewichte in Sergio Leones ersten beiden „Dollar“-Filmen waren, der jedoch – als Mitglied der Kommunistischen Partei Italiens – eine Vorliebe für politische, sozialkritische Stoffe hatte. Wenige Jahre zuvor hatte Volontè sogar schon in einem Theaterstück über Sacco und Vanzetti mitgewirkt, dort jedoch in der Rolle des Sacco. Diesen Part übernimmt im Film Riccardo Cucciolla, der das physische und psychische Leiden des sensiblen Ehemannes und Vaters Nicola Sacco auf so eindringliche Weise spielt, dass er 1971 auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes als bester Darsteller geehrt wurde. Die Rollen sind von Anfang an festgelegt und werden im Laufe des Filmes immer eindeutiger verteilt. In der letzten Sitzung des Gerichts sehen wir einen stolzen, unbeirrten, von seiner Unschuld überzeugten Vanzetti sein Schlussplädoyer halten; neben ihm, in völlige Apathie versunken, der ausgemergelte Sacco, der auf die richterliche Frage nach einem letzten Statement lediglich mit einem „Nein!“ reagieren darf. Sein reales Vorbild hatte am 9. April 1927 zwar noch vor Vanzetti ebenfalls ein Plädoyer gehalten. Aber das hätte nicht in Montaldos Charakterzeichnung gepasst, ebenso wenig wie Saccos letzte Worte vor der Hinrichtung, „Evviva l’anarchia!“ – „Es lebe die Anarchie!“ –, die Montaldo kurzerhand seinem  kämpferischen Vanzetti in den Mund legte. Dieser hatte realiter vor dem elektrischen Stuhl abermals seine Unschuld beteuert und sogar angekündigt, seinen Scharfrichtern vergeben zu wollen.

Selbstverständlich wittert der Historiker hier überall Geschichtsklitterung. Doch was ihm ein Graus sein mag, macht letztlich einen spezifischen Reiz des Filmes aus, nämlich das für den Betrachter kaum auszumachende, subtile Changieren zwischen den Bereichen von gewissenhafter Nacherzählung und Fiktion, das darauf abzielt, eine Empathie mit den beiden Angeklagten zu wecken, die nicht allein auf emotionaler Sympathie, sondern begründeter moralischer Betroffenheit beruhen soll. In extremis zeigt sich das  im Falle der Hinrichtung Saccos, bei deren Darstellung sich der Zuschauer durch einen Point-of-View-Shot (subjektive Kamera) kurzzeitig sogar selbst auf dem elektrischen Stuhl wähnt. Wie in einem Brennglas werden in dieser Szene nochmals die Stilmittel und Intentionen des Regisseurs sichtbar. Die dramaturgische Zuspitzung der dokumentarischen Rahmenhandlung sowie die gezielte Typisierung der Charaktere erreichen einen Höhepunkt, wenn der Zuschauer schließlich die Welt aus dem Blickwinkel Saccos betrachtet: In dieser Identifikation mit dem Hinrichtungskandidaten transportiert Montaldo den impliziten Appell zur Parteinahme mit dem Schwachen, Einsamen, Schuld-, Wehr- und Hilfslosen, der als Opfer eines ungerechten, korrupten und dekadenten Systems erscheint. 


Die Musik

Das populärste Denkmal wurde Sacco und Vanzetti jedoch nicht durch den Film selbst, sondern durch dessen Soundtrack gesetzt; in Frankreich wurde das Album gar ein Nummer-1-Hit. Zunächst hören wir einen „typischen“ Ennio Morricone mit seinem ganzen Variationsvermögen, vom verstörend-expressiven Klangteppich bis hin zum harmonisch-melancholischen Orchesterstück. Doch erst im kongenialen Zusammenspiel mit Joan Baez entstand eine Musik, der ein eigenständiger, die Aussagen des Films aufgreifender und erweiternder Wert zukommt. Das liegt vor allem im Prinzip der Intertextualität begründet, dessen sich Baez auf kreative Weise sowohl in einer dreiteiligen Ballade  als auch in dem berühmten Schlussstück bedient.2


Der Film beginnt – schwarz-weiß – mit einer drastischen Darstellung der bereits erwähnten Palmer-Razzien. Ein italienisches Barackenviertel wird von einer Polizei-Hundertschaft gestürmt, Männer wahllos blutig geschlagen, Frauen und Kinder abgeführt. An dieser Stelle setzt Teil 1 der Ballade an Sacco und Vanzetti ein. Er beginnt mit folgendem Vers:

Give [to] me your tired [and] your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,
The wretched refuse of your teeming shore.
Send these, the homeless, tempest-tossed to me.

Die krasse Diskrepanz zwischen dem Gesehenen und dem Gehörten vergrößert sich noch, wenn man die Herkunft des bei Matthäus 11,28 entlehnten Verses berücksichtigt: Es handelt sich um einen Auszug aus dem Sonett „The New Colossos“ von Emma Lazarus, das auf einer Bronzetafel in den Sockel der Freiheitsstatue eingelassen wurde.3 Hier wächst sich das Zusammenspiel von Bild,  Ton und literarischer Quelle zu einem Generalangriff auf das amerikanische Selbstverständnis als tolerante, freiheitsliebende Einwanderernation aus, das als Mythos, als hohle Phrase desavouiert werden soll, wie es im weiteren Verlauf des Liedes heißt:

And none was welcomed by the echo of the phrase 
"I lift my lamp beside the golden door."

Indem Baez im Refrain außerdem ausgesuchte Seligpreisungen aus der Bergpredigt zitiert (Blessed are the persecuted, and blessed are the pure in heart. Blessed are the merciful, and blessed are the ones who mourn. - s. WikiSource), soll nicht nur Sympathie für eben jene Verfolgten geweckt werden – es ist auch als beißende Kritik an einer als bigott wahrgenommenen amerikanischen Doppelmoral zu verstehen.

Bei den beiden anderen Stücken der Ballade bediente sich Baez im umfangreichen Fundus der Briefe, die Sacco und vor allem Vanzetti aus dem Gefängnis heraus an Freunde und Verwandte geschrieben haben. In Teil 2 dient ihr ein Brief Vanzettis vom 1. Oktober 1920 an seinen Vater als Vorlage, in dem er diesen aufforderte, sich seiner Verhaftung nicht zu schämen, jenes Unrecht nicht zu verschweigen und zudem auch seine „Gegner“ benennt: das Gesetz, die Polizei, die Macht des Goldes und den Rassenhass. Teil 3 der Ballade ist schließlich einem Brief Saccos an seinen Sohn Dante entnommen, den er wenige Tage vor seinem Tod schrieb.4

Ganz am Ende des Filmes, nach der Hinrichtung von Sacco und Vanzetti, erklingen die ersten leisen Klänge von „Here’s to you“, jenem Lied, das dafür verantwortlich zeichnet, dass die Namen Sacco und Vanzetti bis zum heutigen Tage in weiten Kreisen nicht in Vergessenheit geraten sind. Wiederum hat Baez die letzen beiden Zeilen einem Zitat entnommen, das Vanzetti zugeschrieben wird, der angesichts der bevorstehenden Hinrichtung gesagt haben soll: „That last moment belongs to us, that agony is our triumph.“

Here’s to you, Nicola and Bart 
Rest forever here in our hearts 
The last and final moment is yours 
That agony is your triumph.

Unterlegt mit einer einfachen Akkordfolge werden diese vier Zeilen ständig und mit zunehmender Intensität wiederholt. Gepaart mit einer schlichten und einprägsamen Melodie entfaltet die Musik eine besonders eindrückliche, faszinierende Wirkung auf den Hörer, die noch verstärkt wird durch Joan Baez’ unverwechselbare Stimme und ihre klare, unpathetische Interpretation.

Doch letztlich dürfte es der dem Song wie dem ganzen Film eingeschriebene politische Subtext gewesen sein, der gewissermaßen einen „Nerv der Zeit“ getroffen und maßgeblich zu seiner Verbreitung beigetragen hat. Sacco und Vanzetti lief in jenen Monaten in den Kinos an, die noch von Massenprotesten gegen den Vietnamkrieg und einem vielfach anzutreffenden Antiamerikanismus geprägt waren. Joan Baez stand (gemeinsam mit Bob Dylan) in dem Ruf, „voice and conscience of the Sixties“ zu sein, insbesondere in friedensbewegten Kreisen fand ihre Stimme im wahrsten Wortsinne Gehör. Hinzu kam, dass der Fall Sacco und Vanzetti Anfang der 1970er eine unerwartete tagespolitische Aktualität gewann. „Das Thema ist in“ – mit diesen Worten leitete das Hamburger Abendblatt im Juni 1972 vielsagend seine Besprechung des Montaldo-Filmes ein.
In der Tat hat sich in jener Zeit erneut ein Massenprotest an einem mutmaßlich politischen Prozess entzündet, in dessen Folge Sacco und Vanzetti gleichsam wiederentdeckt wurden: Die schwarze Bürgerrechtlerin und (zeitweise linksradikale) politische Aktivistin Angela Davis wurde 1970 in den USA wegen Terrorismus-Verdachts verhaftet, eine Verurteilung zum Tode schien nicht ausgeschlossen. Nicht nur in den Augen des Free Angela movement drängten sich die Parallelen beider „Fälle“ auf. Mehr oder minder folgerichtig nahm Franz-Josef Degenhardt in seiner deutschen Interpretation von „Here’s to you“ Angela Davis in den Songtext mit auf („Dieses Lied, Nicola und Bart, ist für euch und Angela“) und wollte damit einen Beitrag zur Aufklärung über den „wahren Charakter des kapitalistischen Systems“ leisten (youtube).  Dass Degenhardt selbst die Mechanismen dieses Systems zu nutzen verstand, zeigt der Umstand, dass er den Verkauf seiner Platte auf den Tag des deutschen Kinostarts (10. Mai 1972) legte.

„Here’s to you“ avancierte schließlich zur inoffiziellen „Hymne der Friedensbewegung“ (Peter Zander) und viele prominente Interpreten – u. a. Mireille Mathieu (youtube) oder Georges Moustaki (youtube) – trugen zur weiteren Verbreitung des Stückes bei. Eine solche Popularisierung und mitunter auch politische Instrumentalisierung konnte jedoch nur um den Preis einer weitgehenden Entkontextualisierung der „historischen Personen“ Sacco und Vanzetti gelingen. Sie gerieten immer mehr zu willkürlich einsetzbaren Projektionsflächen eines von antiamerikanischen Ressentiments geprägten Kampfes gegen „den“ Kapitalismus und dessen „Auswüchse“.


Epilog

Am 23. August 1927, dem Tag der Hinrichtung, fühlte sich Harry Graf Kessler in seinem Tagebuch an den Tod des Sokrates und von Giordano Bruno sowie an die Dreyfus-Affäre erinnert. Weiter schrieb er: „Ein solcher Fall im größten Ausmaße und mit unabsehbaren Wirkungen ist die scheußliche Abschlachtung von Sacco und Vanzetti, der wie der Blutfleck der Lady Macbeth untilgbar der amerikanischen Zivilisation im Bewußtsein der Menschheit anhaften wird.5  Kessler, der schillerndste und für die Nachwelt wohl auch interessanteste deutsche Diarist jener Zeit, hat in seinen Tagebüchern oftmals ein geradezu seismographisches Gespür für gesellschaftliche und politische Tiefenströmungen bewiesen. Zu einem „Wendepunkt in der Geschichte“, wie er vermutet hat, ist der Fall Sacco und Vanzetti indes nicht geworden, aber er macht immer wieder das „Dilemma einer Demokratie sichtbar […], die Gefahr läuft, in Krisenzeiten im Innern die Prinzipien und Grundwerte preiszugeben, die sie nach außen verteidigen“ möchte.6  Angesichts des beispiellosen normativen Sendungsbewusstseins der USA ist die moralische Fallhöhe in solchen „Fällen“ besonders hoch – aktuelle Debatten wie etwa jene um Guantanamo zeugen ebenso davon wie schon der Prozess um Sacco und Vanzetti vor bald 90 Jahren.


Bartolomeo Vanzetti und Niccola Sacco in Handschellen - ein Bild,
dass sich in das Bildgedächtnis eingebrannt hat. Quelle: Wikimedia (Public Domain)



Literatur- und Quellenhinweise

  • PAUL AVRICH, Sacco and Vanzetti. The anarchist background, Princeton 1991. 
  • JEROME H. DELAMATER, MARY ANNE TRASCIATTI (Hrsg.), Representing Sacco and Vanzetti (Italian and Italian American Studies), New York 2005. 
  • OSMOND K. FRAENKEL, The Sacco-Vanzetti Case (American Trials), New York 1931. 
  • FELIX FRANKFURTER, The Case of Sacco and Vanzetti, Boston 1927.
  • The Letters of Sacco and Vanzetti. Edited by MARION DENMAN FRANKFURTER and GARDNER JACKSON, New York 1971 (EA 1928). 
  • PHILIPP GASSERT, MARK HÄBERLEIN, MICHAEL WALA, Kleine Geschichte der USA, Stuttgart 2008. 
  • JÜRGEN HEIDEKING, CHRISTOF MAUCH, Geschichte der USA, 6., aktual. Aufl., Stuttgart 2008. 
  • EUGENE LYONS, Sacco und Vanzetti. Ihr Leben und Sterben. Mit Zeichnungen aus dem „Daily Worker“ von Fred Ellis und Fotografien und Dokumenten, Nachdruck der Ausgabe Berlin 1928, ergänzt durch Fotos und Dokumente der Solidaritätsbewegung aus der Schweiz, aus Deutschland und anderen Ländern, Zürich 1977.7 
  • HELMUT ORTNER, Fremde Feinde. Der Fall Sacco & Vanzetti, Göttingen 1996. 
  • GERT RAEITHEL, Geschichte der nordamerikanischen Kultur (3 Bde.), Bd. 2: Vom Bürgerkrieg bis zum New Deal 1860-1930, Weinheim/Berlin 1988.
  • AUGUSTIN SOUCHY, Sacco und Vanzetti. Zum 50. Todestag Saccos und Vanzettis, Frankfurt 1977; überarbeitete Ausgabe der 1927 im Verlag „Der Syndikalist“, Berlin, erschienenen Schrift „Sacco und Vanzetti – 2 Opfer amerikanischer Dollarjustiz“.
  • ROBERTA STRAUSS-FEUERLICHT, Sacco und Vanzetti, übersetzt von Heinrich Jelinek, Wien 1977. 
  • MOSHIK TEMKIN, The Sacco-Vanzetti Affair. America on Trial, New Haven [u.a.] 2009.
  • MICHAEL M. TOPP, The Sacco and Vanzetti Case. A Brief History with Documents, New York 2005. 
  • BRUCE WATSON, Sacco & Vanzetti. The Men, the Murders, and the Judgment of Mankind, New York 2007. 

Auswahl früher literarischer Verarbeitungen des Falles: 

  • MAXWELL ANDERSON, HAROLD HICKERSON, Gods of the Lightning (1928/29)
  • MAXWELL ANDERSON, Winterset. A Play in three Acts (1935)
  • NATHAN ASCH, Pay Day (1930)
  • JOHN DOS PASSOS, Facing the Chair. Sacco and Vanzetti: The Story of the Americanization of two Foreign born Workmen (1927).
  • EDNA ST. VINCENT MILLAY, u.a.: Justice Denied in Massachusetts (1927)
  • ERICH MÜHSAM, Staatsräson. Ein Denkmal für Sacco und Vanzetti (1928) 
  • UPTON SINCLAIR, Boston. A Documentary Novel (1928) 
  • KURT TUCHOLSKY [THEOBALD TIGER], 7,7 (1927), in: Die Weltbühne, 30.8.1927, Nr. 35, S. 342, online: http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1927/7,7.



Anmerkungen
1 Es ist bezeichnend für die Zerrissenheit und Unversöhnlichkeit der deutschen Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, dass es nicht einmal die Proteste gegen die Hinrichtung von Sacco und Vanzetti vermocht haben, wenigstens in diesem Punkt die vielfach beschworene „Einheitsfront“ zwischen Kommunisten und Sozialsten bzw. Sozialdemokraten zu stiften. Vielmehr standen „reaktionäre“ Sozialdemokraten und „reformistische“ Gewerkschaftsführer im Fadenkreuz der kommunistischen Kritik. So warf z. B. Ernst Thälmann der Sozialdemokratie vor, den „Kampf des Weltproletariats gegen das brutale Verbrechen der amerikanischen Bourgeoisie“ sabotiert zu haben.
2 Es ist zu vermuten, dass hier der Folksänger Woody Guthrie (1912-1967) als geistiger Vater Pate stand, der mit seinen zahllosen, z. T. auch politischen Balladen die Musiklandschaft Amerikas maßgeblich mitprägte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hat Guthrie Auszüge aus Briefen von Sacco und Vanzetti zu einem Album zusammengestellt (Ballads of Sacco & Vanzetti). Bei weitem weniger bekannt wurden andere popkulturelle Bearbeitungen, etwa Guthries eigenes Lied "Sacco and Vacetti" (zusammen mit David Rovics): youtube.
3 Schon zeitgenössisch wurde der Symbolgehalt der Freiheitsstatue und die ihr innewohnende entlarvende Sprengkraft in der auch medial geschlagenen Schlacht um Sacco und Vanzetti erkannt. War in der Presse zur Zeit des „Red Scare“ noch die Zeichnung eines europäischen Anarchisten zu sehen, der die Miss Liberty von hinten zu erdolchen drohte (s. Bild auf WikiCommons), so wird in der Agitation für die beiden Verurteilten versucht, den amerikanischen Freiheitsgedanken als Mythos zu dekonstruieren, indem die Freiheitsstatue z. B. mit Totenschädel dargestellt wird oder aber – so eine Zeichnung von George Grosz – nicht mehr ihre Fackel, Inbegriff der Aufklärung, sondern blutbesudelt einen elektrischen Stuhl als Symbol der Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit in die Höhe hält (s. Abb. beim Max Ernst Museum).
4 Die Songtexte in voller Länge auf http://www.joanbaez.com/Lyrics/herestoyou.html.
5 Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, hg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 559.
6 Heideking/Mauch, Geschichte der USA, S. 230.
7 Beispielhaft für eine Vielzahl von „tendenziösen“ Publikationen zum Thema sei eine Passage aus dem Vorwort dieses Buches zitiert: „Wenn Objektivität gleichbedeutend ist mit dem Verzicht auf leidenschaftliche Parteinahme für die Opfer hasserfüllter Klassenjustiz; wenn Objektivität heißen soll, daß der Fall Sacco und Vanzetti durch das präzise Funktionieren des elektrischen Stuhls aus der Welt geschafft ist – dann ist dieses Buch nicht objektiv.“ (S. 5)

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